6. September 2016

Wir sind es inzwischen gewohnt, dass uns Navigationsgeräte die Richtung vorgeben. Fitness-Tracker ermahnen uns, wann es wieder Zeit für Bewegung wäre. Vieles in guter Absicht, uns ein leichtes und gesundes Leben zu ermöglichen. Alles nur ein Vorgeschmack auf «Big Nudging» der Zukunft?

 

Mit «Nudging» (auf Deutsch «Schubsen ») bedienen sich die öffentliche Hand oder private Unternehmen der Psychologie, um Menschen zu einem bestimmten Verhalten anzuregen. Dabei sollen den Bürger_innen und Konsumen_innen die Wahlfreiheit gelassen und keine Verbote ausgesprochen werden. So kann beispielsweise ein ökologischer Strommix neu als Standardprodukt des Elektrizitätswerks gesetzt oder gesundes Essen attraktiver als Fast Food in der Mensa präsentiert werden. Eine aktuelle Studie der Stiftung Risiko-Dialog zeigt, was im Bereich Umwelt und Nachhaltigkeit konkret in der Schweiz gemacht wird. Sie zeigt, wie wichtig es ist, transparent zu agieren und so eine öffentliche Debatte über die Motivation und die Rahmenbedingungen rund um die konkrete Nudging-Massnahme zu ermöglichen.
Gerade aus politischer Sicht müssen staatliche Interventionen legitimiert sein. Beispielsweise ist ein ökologischer Strommix für die Betroffenen nur im Kontext einer konkreten Energiestrategie plausibel. Man geht davon aus, dass im Bereich Umwelt und Nachhaltigkeit mehrheitlich eine hohe Zielkongruenz zwischen den «nudgenden»Organisationen und den einzelnen Individuen besteht. Deshalb stiessen die untersuchten Fälle auch auf eine hohe Akzeptanz und waren effektiv.

 

Big Nudging
Mit Big-Data-Ansätzen und intelligenten Maschinen lässt sich Nudging auf eine neue Stufe heben – Big Nudging ist das Stichwort. Schon heute werden mit Big Data riesige Datenschätze durchforstet, um beispielsweise neue Zusammenhänge in der Medizin oder in anderen Forschungsgebieten zu erkennen. Die gleichen Technologien können aber auch dafür verwendet werden, um Verhaltensweisen von Individuen besser zu verstehen, womöglich vorauszusagen und mit Nudges zu beeinflussen. Dies könnten Unternehmen für ihr Marketing nutzen. Aber auch der Staat kann seine Bürger_innen zu anderem Verhalten bewegen wollen.

 

Die Idee, Bürger_innen via Smartphone zu gesünderer Ernährung hin zu «schubsen» oder mit Fitnesstrackern zu mehr Bewegung zu motivieren, ist attraktiv. Das Ziel solcher Massnahmen ist die Schaffung einer maximal optimierten Gesellschaft, in der sich der oder die Einzelne im Sinne einer übergeordneten Zielsetzung «vernünftig » verhält. Nur: Wer legt fest, welchen Wohlstand, welche Gesundheit und welches Glück wir wollen? Wie steht es mit dem Recht, sich als Individuum hie und da auch «unvernünftig» zu verhalten – sei es auch nur mit einem Eis an Sommertagen? Dieses Weltbild oder der Wunsch nach einer Gesellschaft, die sich wie eine grosse Maschine steuern lässt, propagiert die Sozio-Kybernetik seit Jahrzehnten. Bislang galt dies als Science Fiction. Zu unberechenbar war der «Faktor Mensch». Mit neuester IT-Technologie und Big Nudging könnte sich dies nun ändern.

 

Ob Big Nudging im Sinne einer Steigerung des Gemeinwohls funktionieren würde, ist offen. Werden Nudges für einen «Durchschnittsmenschen» eingesetzt, könnten beispielsweise Minderheiten mit geringen Ressourcen oder Menschen mit spezifischen Nahrungsmittelallergien benachteiligt werden. Die Alternative wären individualisierte Nudges. Dafür sind grosse Mengen anpersönlichen Daten zusammen zu tragen. Verschiedene Staaten und privatwirtschaftliche Organisationen scheinen zurzeit genau in diese Richtung zu gehen.

 

Einsatz attraktiv und wahrscheinlich
Informationen, die bei der Nutzung einer Suchmaschine oder von sozialen Netzwerken anfallen (z.B. Suchbegriffe, Lese-, Klick- und Kaufverhalten etc.) sind längst keine lästigen Abfallprodukte mehr. Mit diesen Daten kann das künftige Verhalten der Nutzer/-innen vorausgesagt oder auf Meta-Märkten verkauft werden. Individualisierte Online-Produktangebote respektive dynamische Preise sind heute bereits Realität. So können Airlines oder Online-Reisebüros bei potenziellen Kund_innen, welche sich beim Buchen eines Fluges lange Zeit lassen und immer wieder ein Angebot aufrufen, durchaus höhere Preise anzeigen. Bei Schnellentschlossenen ist jedoch die sofort ersichtliche Preisdifferenz zur Konkurrenz möglicherweise kaufentscheidend. Shoshana Zuboff nutzt für diese Überlegungen den Begriff «Surveillance Capitalism». Für sie ist Big-Data-basiertes Nudging die logische Folge davon, wie sich die Marktwirtschaft entwickelt.

 

Pluralität und Eigenverantwortung
Ein demokratischer Rechtsstaat fusst auf verschiedenen Säulen. Er legt Spielregeln fest, wie übergeordnete Ziele beispielsweise im Bereich der Volksgesundheit definiert und verfolgt werden. Er schreibt den Bürger_innen aber auch Eigenverantwortung zu, zeigt Verantwortung im Umgang mit Minderheitsmeinungen. Wollen wir darauf eine digitale «Governance 4.0» aufbauen, sind zudem Aspekte wie Grundvertrauen oder Kohärenz unbedingt zu berücksichtigen. Unter der Annahme, dass Big Nudging wie geplant funktioniert und sich Menschen auf ein zu definierendes Gesellschaftsoptimum einigen würden, könnten jedoch Pluralität und eben Eigenverantwortung infrage gestellt sein. Und: Würde weniger Diversität nicht auch zu weniger Innovation und Resilienz führen?

 

Anwendungen von Big Nudging wird es in der einen oder anderen Form geben, da der Anreiz und die Hoffnung, hohe Ziele erreichen zu können, sehr verlockend sind. Wer will schon gegen ein «vernünftigeres Verhalten» sein, um bessere Gesundheit zu tieferen Kosten zu erreichen? Was die langfristigen Folgen gerade auch fürs Sozialkapital sind, bleibt abzuwarten. Oder noch besser: aktiv zu steuern.

 

 


Big Nudging: bereits Realität?

 

Was für uns nach Zukunftsmusik klingt, ist andernorts bereits Realität. In China ist das bis 2020 noch freiwillige «Sesame Credit System» im Einsatz. Die Vertrauenswürdigkeit von Bürger_innen wird in einem vom Staat initiierten Punktesystem (Citizen Score) abgebildet. Dabei werden Äusserungen in sozialen Medien oder Konsumpräferenzen bewertet. Je höher der eigene Score ist, umso einfacher erhält man Zugang zu Reise-Visa und Finanzkrediten. Die Bürger_innen sind dazu aufgerufen, ihre Punktezahlen ihren Freund_innen zu zeigen, und es muss davon ausgegangen werden, dass auch die Werte der Freund_innen mit in die Bewertung einfliessen.

 

Und bei uns? Ein System, dass alle verfügbaren Informationen über Jedermann sammelt und in einer einfachen Zahl zusammenfast, gibt es nicht. Was aber öffentlich über viele von uns auffindbar ist, sind Bewertungen aller Art. War ich ein guter Airbnb-Gast(geber)? Gebe ich beim Fahrdienst Uber immer negative Bewertungen ab? Lebe ich in einem Quartier mit hoher Kriminalität? Zudem lässt sich seit Kurzem via «Score me» bereits gegen aussen die eigene Bonität deklarieren.