17. März 2022
Der Klimawandel wird häufig als eine schleichende Krise wahrgenommen, die sich zwar unerbittlich, aber doch irgendwie gemächlich und linear entfaltet. Mit dieser scheinbaren Berechenbarkeit kann jedoch schnell Schluss sein, wenn kritische Kipppunkte im Klimasystem erreicht werden. Die Wahrscheinlichkeit solcher Kipppunkte und der damit einhergehenden Eskalation der Klimakrise kann bisher nicht prognostiziert werden – es wäre jedoch fahrlässig, ihre Möglichkeit angesichts zunehmender Warnzeichen zu ignorieren.
Der Klimawandel wurde lange als eine Krise der Zukunft betrachtet, der im Heute durch die präventive Reduktion von Treibhausgasemissionen begegnet werden kann. Mittlerweile ist die Gegenwart in der Klimakrise angekommen: Die Zunahme von Wetter- und Klimaextremen und deren Folgen können mit immer höherer Sicherheit dem menschengemachten Treibhauseffekt zugeordnet werden. Doch auch angesichts von Waldbränden, Hitzewellen und Gletscherschmelze wird der Klimawandel häufig als eine schleichende Krise wahrgenommen, die langsam die Rahmenbedingungen des Lebens auf der Erde verschiebt. Das Klimasystem, die Ökosysteme der Erde und gesellschaftspolitische Prozesse sind jedoch hoch komplex und halten sich nicht an lineare Szenarien.
Die Plötzlichkeit und Geschwindigkeit, mit denen Krisen in komplexen Systemen eskalieren und vermeintliche Sicherheiten zunichte gemacht werden können, treffen Politik und Gesellschaft trotz aller Analysen und Prognosen immer wieder unvorbereitet. Das haben uns zuletzt die exponentiell steigenden Fallzahlen in den Wellen der Covid19-Pandemie, aber auch die Eskalation des russisch-ukrainischen Konflikt schmerzhaft vor Augen geführt.
Auch in der Klimakrise sind kurzfristige Eskalationen möglich, und zwar gleich auf mehreren Ebenen: erstens durch Nicht-Linearitäten im Klimasystem selbst, zweitens in den Folgen der Klimaveränderungen für menschliches und nicht-menschliches Leben – und drittens im gesellschaftspolitischen Umgang mit der Krise.
Auf allen drei Ebenen besteht die Möglichkeit, dass kritische Schwellen überschritten und sogenannte Kipppunkte erreicht werden. Häufig diskutiert werden dabei die dem Klimasystem immanenten Kipppunkte, wie der Verlust von Meer- und Landeis, das Auftauen von Permafrostböden, Entwaldung durch Trockenheit und Waldbrände, sowie teils irreversible Auswirkungen auf Ökosysteme und Biodiversität. Einige Kipppunkte drohen sehr akut erreicht zu werden, wie es beispielsweise der IPCC und eine aktuelle Studie zur sinkenden Resilienz des Amazonas-Regenwaldes darlegen. Zugleich sind die betroffenen Systeme zu komplex, um Zeitpunkt und Ausprägung einzelner Kipppunkte vorhersagen zu können. Die Wahrscheinlichkeit des Erreichens von Kipppunkten kann nicht mit Sicherheit prognostiziert werden. Dies ist der Grund, warum diese in den gängigen Klimaszenarien nach wie vor nicht ausreichend abgebildet werden können. Dementsprechend werden Kipppunkte in der Regel nicht als ein Risiko angesehen, mit dem sich planen lässt, und finden kaum Beachtung in Strategien zu Klimaschutz und -Anpassung.
Die Unberechenbarkeit der Kipppunkte ändert jedoch nichts daran, dass viele solche Kipppunkte im Klimasystem existieren und mit jeder zusätzlichen Tonne CO2-eq, welche in die Atmosphäre emittiert wird, die Wahrscheinlichkeiten einer möglichen Eskalation zunimmt – mit schwerwiegenden Folgen wie humanitäre Krisen, Ernährungsunsicherheit, Wasserknappheit, unfreiwillige Migration und vorzeitigen Todesfällen. Dies wird etwa durch die „Reasons for Concern“-Diagramme des jüngsten IPCC-Berichts eindrücklich illustriert.
Angesichts der naturwissenschaftlich beschreibbaren Kipppunkten und zunehmender Naturgefahren als Konsequenz der Klimaerwärmung stellt sich die Frage nach Risiken und Kipppunkten bezüglich des menschlichen Handelns in der Klimakrise. Bisher besteht die gesellschaftspolitische Reaktion auf die Krise vorrangig im Versuch, Treibhausgasemissionen und die Abhängigkeit von fossilen Energieträgern zu reduzieren, ohne dabei auf politischer oder ökonomischer Ebene zu viel zu riskieren. Diese Bemühungen gehen mit sogenannten Transformationsrisiken („Transition Risk„) einher – etwa was die sozialen und ökonomischen Folgen der Einpreisung von Emissionen anbelangt. Häufig dominieren Partikularinteressen und die Angst vor Wettbewerbsnachteilen. Die Folge sind ein kollektives Trittbrettfahrertum gepaart mit einem zähen Ringen um internationale Verträge, verbindliche Standards und nationale Reformen. Das global aggregierte Transformationsrisiko äussert sich im kollektiven Scheitern beim Klimaschutz. Im Jahr 2021 erreichten die weltweiten CO2-Emissionen erneut Rekordwerte – was wiederum das Erreichen kritischer Kipppunkte wahrscheinlicher macht.
Die Trägheit menschlichen Handelns angesichts des Klimawandels kann sich schnell ändern, wenn kritische Kipppunkte erreicht werden oder Extremereignisse gesellschaftlich untragbare humanitäre Krisen mit sich bringen. In diesem Fall drohen menschliches Leid, Flucht und Vertreibung – und in der Reaktion politische Alleingänge wie beispielsweise nationalistischer Protektionismus und die Abschottung weniger betroffener Regionen. Es ist aber auch denkbar, dass Regierungen oder finanzkräftige Philantropen kurzfristig auf hochriskante und unerprobte Technologien wie Solar Radiation Management (SRM) zurückgreifen, um die globale Erwärmung kurzfristig einzudämmen – mit nach wie vor nur unzulänglich erforschten Folgen für das Klimasystem und möglichen klimatologischen und diplomatischen Konsequenzen weltweit.
Sich auf alle Eventualitäten vorzubereiten, ist nicht möglich – aber dennoch sollte diese Erkenntnis zum Anlass genommen werden, das Eskalationspotential der Klimakrise anzuerkennen und bei Anpassungsstrategien die Möglichkeit von Kipppunkten und Eskalationen jenseits der linearen Trends der Klimaszenarien in Betracht zu ziehen. Noch wichtiger ist es angesichts der Unvorhersehbarkeit der Klimakrise jedoch, dem Klimawandel mit der nötigen Konsequenz und Dringlichkeit entgegenzutreten ohne dabei die Transformationsrisiken aus den Augen zu verlieren – und endlich Ernst beim Klimaschutz zu machen – oder wie es Henrik Nordborg, Professor an der Ostschweizer Fachhochschule, neulich ausgedrückt hat: „Hoping for a miracle is not a strategy“.
Inspirierende Visionen für eine erfolgreiche und wünschenswerte Transformation hin zu „Netto-Null“ in der Schweiz gibt es auf der Seite schweiz-2050.ch des Vereins Klimaschutz Schweiz. Um dort anzukommen, gilt es sich heute gemeinsam als Gesellschaft auf den Weg zu machen – und beispielsweise durch das Erreichen sozialer Kipppunkte positive Veränderungen zu bewirken.